Der Nagel "Oh Ja !" Das sagte er, als er den langen Nagel aus seinem Motorradreifen zog. Das war etwa um 6:50, eine Ecke vor seinem Arbeitsplatz. Er war zweimal in zwei Kurven ins Schleudern gekommen und nun abgestiegen, um nach dem Rechten zu sehen. Zuerst dachte er, wie man nun mal so denkt, direkt an das Schlimmste, daß das Rad locker wäre und sich dadurch verzogen hätte. "Wie komme ich jetzt am Nachmittag nach Hause?", dachte er. Er schob noch die Ecke herum, stellte sein Motorrad an die gewohnte Stelle, ging hoch in seinen Raum und zog sich um. Danach machte er sich ohne lange zu überlegen auf den Weg nach unten, um nach Werkzeug und Möglichkeiten des Hauses zu fragen. -"Guten Morgen, hem, ich hab einen Platten, und wollte fragen, ob vielleicht Werkzeug im Hause wäre?". -"Werkzeug!, nein." -"Danke." Nun wußte er, daß er auf sich selbst angewiesen war! Oder doch nicht? War da nicht noch die Werkstatt im selben Block? Ja, er konnte sogar die Werbung lesen: REIFEN.BREMSEN.AUSPUFF.STOSSDÄMPFER.KUPPLUNGEN.MOTORDIAGNOSE. Um erst einmal die Lage zu peilen, ging er ohne Motorrad um den Block herum, auf die andere Seite. Er kam an und bemerkte die hoffnungslose Sinnlosigkeit seines Bemühens, denn er las die Öffnungszeit: Mo. bis Fr. 8:00 - 19:00 Uhr ! Ein Blick auf die Uhr genügte. Er wußte dadurch nicht nur, daß heute der 22. war, sondern auch, wie so oft in seinem Leben, daß er mal wieder zu früh dran war, auch wenn es diesmal nur eine Stunde war. Auf dem Rückweg nahm er eine Abkürzung quer durch den Block, die er auf dem Hinweg entdeckt hatte. Dabei überlegte er sich noch das Problem, wie er in einer Stunde das Motorrad über den Zaun bekommen sollte, über den er gerade stieg. In seinem Werkzeug suchte er nach einer Lösung. Er fand sie in Form von einem 22er Maulschlüssel, der es ihn ermöglichte, daß Hinterrad abzumontieren. Nach etwa 20 Minuten hielt er das Rad in der Hand. Der Kollege von eben kam vorbei, das lag daran, daß sein Arbeitsplatz sowohl im Haus, als auch draußen in der Annahme lag. Er sah ihn und sprach: -"Lassen Sie es doch da drüben auf der anderen Seite des Blocks in der Werkstatt kleben." -"Ja, hem, ich hab leider nicht genug Geld bei mir, fürchte ich." Unser Held räumte das Werkzeug und die Schrauben unter den Sitz und schloß ab, so daß er das Motorrad allein lassen konnte. (Kommt ja eh keiner weit mit!) Er ging mit abmontiertem Rad hoch zu seiner Arbeitsstätte und arbeitete noch die halbe Stunde bis 8:00. Nun konnte er rüber über den Zaun (mit Rad) zu der Werkstatt. In der Annahme: -"Guten mMrgen, ich hab einen Platten!" Er zeigte sein Rad hin und suchte nach dem Loch. Der Mechaniker bückte sich und schaute nach der Reifengröße: -"Ein neuer Schlauch kostet 18.- DM, die Reparatur beträgt 10,- DM, aber wenn ich mir den Reifen anschaue, würde ich einen neuen Mantel für 90,- DM empfehlen, da Sie ihn sowieso nur noch 400-500 km fahren könnten". -"Ok, er müßte aber um 14:30 fertig sein.". -"Ich schau mal, ob wir im Lager diesen Mantel haben." Er ließ unseren Held alleine und ging ins Lager. Er kam wieder: -"Leider nicht da, ist ein seltenes Ding. Was für ne Maschine ist es?" -"Yamaha 125" -"Vieleicht sind noch andere Reifentypen zugelassen?" -"Mal sehen, ich hab den Fahrzeugschein bei." Er zog den grünen Lappen raus und gab ihn dem Fachmann. -"Nein, ist' ne Straßenmaschine. Nicht wahr?" -"Ja." Nach weiterem Durchlesen des Fachmannes: -"Ah, nettes Radel." Er hat wohl die kW-Zahl gelesen. Unser Held konnte es sich nicht verkneifen: -"Klaro!" Der Mechaniker: -"Nein, ist nichts zu machen, ich hab nur die 80er Reifen da. Ihre Maschine ist zu selten, als daß wir die Mäntel lagern könnten. Ich könnte ihn höchstens bestellen." -"Ich muß damit heute noch nach Hause." -"Ja, schon klar, da würde ich sagen, lassen Sie ihn hier. Wir setzen einen neuen Schlauch ein. Wäre 12 Uhr mittags zu spät?" -"Durchaus nicht, ich brauch das Rad erst um 14:30." -"Also gut, sagen wir 13:00." -"Und die Kosten wären etwas unter 30,- DM?" -"Ja, ja." Er verabschiedete sich, kletterte wieder über den Zaun und freute sich, daß sie ihm keinen neuen Mantel andrehen konnten! Doch ein Problem war noch, er hatte bloß 15,- DM in der Taschen. Doch er wußte, daß er sich bis morgen bei' nem Kollegen etwas leihen konnte. Also ging er hoch und wartete auf seine Arbeitskollegen. Es war mittlerweile 8:30 Uhr, und normalerweise erscheinen dann die ersten Kollegen. Er wartete weiter. Nun endlich um 8:50 kam der erste: -"Guten Morgen." -"Guten Morgen, ich hatte heut' nen Platten!" -"Oh, ich hab mich schon gefragt, warum die Maschine da draussen nur ein Rad hatte." -"Ich hab's rüber gebracht, und für 30.- DM machen sie es mir wieder. In der Angelegenheit wollte ich sie noch darum bitten, mir 15,- DM bis morgen zu leihen." -"Aber ja." Der Kollege stand auf, gab ihm das Geld und erzählte: -"Ich hatte schon dreimal einen Plattfuß, in der Werkstatt hat man ihn in 5 Minuten für 20,- DM mit einem Stopfen geklebt." -"Ja, die wollen mir aber einen neuen Schlauch andrehen. Einen neuen Reifen hatten sie glücklicherweise nicht da, sonst hätten sie mir den auch noch verkauft!" -"Achso, ich hab natürlich schlauchlose Reifen." Die Zeit verging. Nun war es 12:53 Uhr, und er beschloß aufzubrechen. Er kam an, bekam was er wollte, und gab was er sollte. -"Der Schlauch war so ein Stück aufgerissen," zeigte der Mechaniker und nahm von ihm 14.87 DM für den Schlauch und 8.77 DM für Montage, gesamt 26,95 DM. Nach dem Bezahlen vergaß unser Held fast, den Reifen mitzunehmen. Auf den Weg zum Motorrad überlegte er sich, den nächsten Reifen hier wechseln zu lassen, denn es scheint günstig zu sein. Angekommen an seinem Motorrad, machte er sich ans Werk, den Reifen zu montieren. Es dauerte keine Minute, da war auch schon ein Schaulustiger herangetreten und belaberte unseren Helden von der Seite. Nichtsdestotrotz schaffte er die Arbeit bis 13:26, was ihn sehr glücklich machte, denn er testete selbstverständlich die Maschine (ohne Helm versteht sich). Hier endet die Geschichte. Doch seien noch einige Nachworte über den Schaulustigen ausgesprochen: Er fuhr früher eine 250er BMW, da hat er aber zuviele Strafmandate eingesackt (die Stadt schrieb ihn an, sie würden ihm den Führerschein abnehmen). Er vekaufte die 250er und holte sich eine 80er Honda und baute sie im Bausatz auf eine 125er um. Er meine, dabei wäre darauf zu achten, daß der Kopf (was immer er damit meine) mit ausgetauscht werden solle. Er wäre schon oft auf anderen umgebauten 80er auf 125er gefahren, aber wenn noch der alte Kopf drin wäre, würde er es sofort merken. Und viele werden sich fragen, was mit unserem Held passierte: Er zahlte das Geld, das er sich geliehen hatte am anderen Tag zurück und freut sich seines Lebens. gez. Pitchfork 22.05.1990